Es sind Gestalten aus dem Leben, aus der unmittelbaren Anschauung – und doch handeln sie ganz grundsätzlich von der Existenzbedingung des Menschen, von seiner Geworfenheit zwischen Himmel und Erde. Ernst Barlachs plastisches Œuvre gehört zu den Höhepunkten der Kunst der Moderne und der Geschichte der Bildgießerei, die das umfangreiche, komplexe und bis heute anrührende Werk Barlachs in Gänze gegossen hat. Die Ausstellung in der Werkstattgalerie Hermann Noack widmet sich den seltenen Güssen zu Lebzeiten, darunter so berühmte Werke wie „Der singende Mann“ und „Das Wiedersehen“.
Im Sommer 1906 brach der 36-jährige Ernst Barlach gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaus ins damalige Südrussland auf, nach Kiew, Charkow und das Donezgebiet. Zu diesem Zeitpunkt sah er die deutsche Bildhauerei an einem Tiefpunkt – er verachtete die Moden der Zeit, vornehmlich die Salonplastik und den Neobarock. Doch auch mit seinem eigenen Werk war er keineswegs zufrieden. Er strebte einen ganz eigenen Stil an, der ihm authentischer Ausdruck für die Lage des Menschen in seiner Zeit sein sollte. Doch mit seinen überfrachteten, vom Jugendstil geprägten Entwürfen sah er sich von diesem Ziel noch weit entfernt.
Selten lässt sich die Kehrtwende eines Künstlers hin zu künstlerischer Reife so genau festlegen wie bei Barlachs Russlandreise. Doch natürlich war sie nicht alleiniges Erweckungserlebnis, vielmehr fand er durch die lebhafte Anschauung dort die Inspiration, die seiner Auffassung von Ästhetik und Expression in der Bildhauerei entsprach. Die monumentale Weite der Landschaft und die Menschen, deren Leben durch Armut und Entbehrung geprägt waren – Bauern, Bettler und Hirten – zeigten ihm den Weg zu künstlerischer Wahrhaftigkeit: „Donnerwetter, da sitzen ja Bronzen“, so beschrieb er später seinen ersten Eindruck.
In seiner Autobiografie von 1928 schrieb er: „Rußland gab mir seine Gestalten“, doch sah er sich „nicht ohne Anteil an dem Sosein des endlichen Ausfalls, denn als ich zurückkehrte und die ersten beiden Bettler, die mir Symbole für die menschliche Situation in ihrer Blöße zwischen Himmel und Erde waren, in Friedenau im alten Stübchen anlegte, […] mußte doch nicht schlecht gekämpft werden […]“
Obwohl die Bronze das entscheidende Material für das Werk Barlachs werden sollte, dauerte es einige Jahre, bis er seinen Weg dahin fand. Arbeiten in Holz, auch das Schreiben von Theaterstücken sowie ein längerer Aufenthalt in Italien beschäftigten ihn, bevor er das plastische Arbeiten für seine Kunst nutzbar machen konnte. In einem Brief an seinen Kunsthändler Alfred Flechtheim schreibt er: „… es unterlaufen mir doch immer wieder Dinge von einer gewissen Gewagtheit, wo nicht Leichtigkeit, auch im Stofflichen, bei denen die momentane Beglücktheit so entscheidend ist, daß ihr gelingen bei langsamer und mühevoller Ausführung in Holz unmöglich wäre. Diese Dinge vor allem verlangen nach Bronze, in der die ganze Frische des augenblicklichen Gefühls erhalten bleibt, hier vermag sie allein getreu zu sein und das Erlebnis der Minuten zu erhalten …“ Die Spannung zwischen dem „Erlebnis der Minuten“ mit einem Material, das auf unabsehbare Dauer angelegt ist, wurde für Barlachs Arbeit grundlegend. Sie verband sich mit einem untrüglichen Gefühl für die Balance zwischen Expressivität, Zurückgenommenheit und das Moment existenzieller Spannung im menschlichen Körper. Die für Barlach entscheidende Phase von der Mitte der 20er bis zur Mitte der 30er Jahre hat dabei ikonische Werke hervorgebracht, die Barlach das Glück hatte, schon zu Lebzeiten in der Bildgießerei Noack verwirklicht zu sehen. In ihrer emotionalen und erzählerischen Kraft sprechen sie zu uns bis heute.
Die Ausstellung wird vom 30. April bis zum 03. Juli 2022 zu sehen sein.
Pfingstmontag, den 6. Juni bleibt die Galerie geschlossen.
Öffnungszeiten:
Mo - Fr 10 - 17 Uhr
Sa 12- 18 Uhr