Makroskopische Tropfen aus Aluminium, skurrile Blumen aus Bronze, Nebel und Schnee aus Silber: Die Bildhauerin Anna Bogouchevskaia hat eine eigenwillige und faszinierende Welt der flüchtigen Naturphänomene geschaffen. Angetrieben von dem Wunsch, dem Formlosen eine Form zu geben, arbeitet sie an ihrer ästhetischen Vision, stets voller Ideen, Neugier und dem Hunger nach Neuem.
Es ist ein langer, gewundener Weg durch das Skulpturenforum Hermann Noack, das direkt am Spreeufer liegt, bis man zu Anna Bogouchevskaias Atelier gelangt. Ich werde am Eingang abgeholt, vorbei an der Werkstattgalerie mit Blick auf den großen Garten geht es hinauf in die obere Etage. Von dort läuft man über lange Galerien durch die hohen Hallen der Bildgießerei, vorbei an endlosen Regalen mit Gipsformen, Bauteilen und Modellen, zum Beispiel die in ihre Einzelteile zerlegte Gussform der Engelsskulptur „Der Schwebende“ von Ernst Barlach. Der Blick hinunter in die Werkhallen zeigt brummende Geschäftigkeit: Zwischen Kränen, Hochöfen und Sandbergen kann man hier Kunstwerke bei ihrer Entstehung beobachten.
Angekommen im großen, sonnigen Atelier werde ich mit einer Tasse schwarzen Tee willkommen geheißen. Doch zum langen Sitzen gibt es hier keinen Grund – ohne Umschweife kommen wir auf die Arbeiten zu sprechen, die sie gerade umtreiben und die in verschiedenen Stadien des Entwurfs den größten Teil des Raumes einnehmen. „Das ist schon gegossen, aus Aluminium, denn es wird von der Decke hängen“, berichtet Anna Bogouchevskaia begeistert mit Blick auf eine große Regenwolke, unter der einzeln ausgeformte Regentropfen an Schnüren herunterhängen, an ein Mobile erinnernd. Daneben gibt es kleinere Skulpturen wie eine Art Höhleneingang mit Eiszapfen zu entdecken, einen Sonnenuntergang im Nebel oder einen Tannenbaum, bei dem nur noch die Astspitzen unter einer dicken Schneedecke hervorlugen.
Durch alle Arbeiten der letzten Jahre zieht sich als verbindendes Element das Wasser, in seinen verschiedenen Aggregatzuständen und Erscheinungsformen. Angefangen mit den makroskopisch vergrößerten Tropfen, die in Moving Waters zu sehen sein werden, bis zu aktuellen, noch im Entstehen begriffenen Arbeiten. Anna erklärt mir: „Dieses Moment in meiner Arbeit ist für mich absolut faszinierend, dass ich mit Themen arbeite, die letztendlich nicht für die Bildhauerei geeignet sind. Wenn ich zum Beispiel Schafe im Nebel modelliere, ist der Eindruck einen winzigen Moment da und schon wieder vergangen.“ Das Flüchtige, Vergängliche und Amorphe hat es Anna Bogouchevskaia angetan: „Das, was verschwindet und keine Form hat – dafür eine Form zu finden, ist mein Wunsch. Zugleich ist auch die Arbeitsweise etwas Neues, denn abstrakte Formen brauchen unglaublich viel Zeit. Bei jedem kleinsten Stück stellt sich die Frage: Wie passt hier eines zum anderen?“ Gefragt nach dem Ursprung ihrer Obsession mit Flüchtigkeit und Abstraktion, berichtet sie von einer Initialzündung: „Ich habe den Film Microcosmos gesehen [ein französischer Dokumentarfilm von 1996, VG], in dem Frösche, in einem Teich bei Regen gezeigt wurden. Die herabfallenden Tropfen, die auf die Wasserfläche aufschlagen und die aufsteigenden Formen bilden – als ich das gesehen habe, wusste ich: Das muss ich machen.“ Der mit speziell entwickelten makroskopischen Kameras arbeitende Film hat tatsächlich neue Welten eröffnet, die bis dahin noch nie zu sehen gewesen waren: Eine verwunschene, flüchtige Welt des Kleinen, die Anna mit den Tropfen in aufwendiger Gestaltungsarbeit in die Skulptur übersetzt hat.
Da Anna mit figürlichen Arbeiten bekannt wurde, frage ich sie, inwieweit man hierbei von einer Entwicklungslogik, einer Genealogie in ihrem Werk sprechen kann, die sich vom Konkreten zum Abstrakten hin entwickelt. Sie nickt: „Viele, die mich von meinen figürlichen Arbeiten kennen, wundern sich sehr über diesen Wandel zum Abstrakten hin.“ Zugleich ergänzt sie aber auch, dass der Anstoß für diese ästhetische Suche noch viel weiter zurückliegt, womit wir auf ihre Familiengeschichte zu sprechen kommen, die untrennbar mit ihrem künstlerischen Werdegang verbunden ist.
Ein Leben in der Kunst, mit der Kunst, für die Kunst: Für Anna Bogouchevskaia war die Bildhauerei Teil ihres Aufwachsens.
„Ich hatte eine ganz klassische, akademische Ausbildung – was ich übrigens jedem Künstler empfehlen würde – denn es bringt einem Ordnung, Wissen und Können nahe, die, egal für welchen Weg, unverzichtbar sind. Mit der Arbeit im realistischen Akademismus habe ich wohlgefühlt, denn auch der hat seine Berechtigung, doch ich musste mich bewegen und weiterentwickeln. Dabei half mir der Zufall: Als ich mit meinem Vater in Barcelona war, habe ich bei einem Straßenfest [die Parade der Giganten beim La Mercè] einen Puppenspieler gesehen, der eine riesige Marionette auf dem Rücken trug, die hinter ihm gelaufen ist. Ich fand das genial, denn die Bewegung dieser Puppe war so unabhängig, so weit weg von einem Realismus, und trotzdem so lebendig: Das hat mir den Anstoß gegeben, mich mit Abstraktion zu beschäftigen.“
Während einzelne Eindrücke und prägende Erlebnisse vom Zufall mitbestimmt werden, ist in Anna Bogouchevskaias Leben trotzdem der Weg in die Kunst vorgezeichnet. Als Kind von Ninel Bogouchevskaia und Daniel Mitlianski, beide angesehene und erfolgreiche Bildhauer und teil der künstlerischen Elite in Moskau, obwohl politisch eher den Dissidenten nahe, wurde sie von klein auf gefördert und bestärkt. „Er arbeitete wie eine Maschine“, sagt sie bewundernd über ihren Vater, „übernachtete oft im Atelier und produzierte ohne Unterlass.“
Nur zwei Jahre verbrachte Anna auf einer normalen Schule und wechselte mit neun Jahren auf eine Kunstschule. „Zum Glück!“, wie sie nachdrücklich ergänzt, „denn auf der regulären Schule stach ich wie eine weiße Krähe heraus und wurde ständig gemobbt.“ Ziel der Hänseleien war auch ihr Nachname, Mitlianskaia, denn „Mitla“ heißt auf Russisch Bürste. Lieber war ihr da der Name ihrer Mutter, den man immerhin mit „Gottes Chefin“ übersetzen könnte, was auch ein Grund war, den Namen nach dem Tod der Mutter 1988 anzunehmen.
Nach der Kunstschule führte ihr Weg über das Kunstinstitut Surikowski zur Moskauer Kunstakademie, wo sie Meisterschülerin von Wladimir Tsigal wurde.
Vom akademischen Realismus ausgehend hat sie sich mit der Zeit eine ganz eigene, unverwechselbare bildnerische Sprache geschaffen, die aus der frühen Serie über das Puppen-Motiv spricht, sich in den Serien zu Tischszenen oder Kinderspielen weiter ausformuliert und mit gleicher Klarheit in den aktuellen Naturarbeiten zum Amorphen und Momenthaften zum Tragen kommt.
„Das Wichtigste für mich ist, mich nicht zu wiederholen.“
So sehr Anna mit tiefer Bewunderung und Liebe von ihren Eltern spricht und auf ihr Aufwachsen mit der Kunst zurückblickt, so sehr ist sie zugleich fest in der Gegenwart verankert. Während ihre nächste Ausstellung in Hamburg noch in Vorbereitung ist, ist Anna deshalb schon ganz bei ihrer übernächsten, die das Naturthema erweitern und fortsetzen wird – eingesponnen und vertieft in Überlegungen zu Entwurf und Überarbeitung, Form und Material, Intention und Wirkung. Dabei sticht ins Auge, wie sie völlig ohne elitäre Attitüden auskommt: „Es sollte nicht viel erklärt werden müssen“, sagt sie, in Bezug auf die Wirkungsästhetik bildhauerischer Kunst, „man sollte sie gleich verstehen, zugleich müssen sie beeindrucken und neugierig machen. Ich glaube, in der heutigen Kunstwelt herrscht eine Polyphonie: Alles ist möglich, aber alles kann auch schiefgehen. Es gibt keine Regeln. Es ist nicht wichtig, was man macht, sondern wie man es macht.“
Im Gespräch mit ihr ist zu spüren, wie hartnäckig Anna die Frage nach dem Wie an ihre eigenen Arbeiten stellt – und wie tief sie mit ihnen vor allem in ihrem Werden und Entstehen verbunden ist. Immer wieder kehren wir zu ihren aktuellen Entwürfen zurück, in die Formenwelt von Nebel, Wolken, Eis und Schnee, sprechen über ihr Potenzial und wie das Formlose zu seiner Form finden kann. Ihre künstlerische Unruhe und Vitalität ist geradezu ansteckend und scheint mir nach unserem mühelos sich entspinnenden Gespräch den Kern ihrer Künstlerpersönlichkeit auszumachen. Zugleich prägt er ihren mal liebevollen, mal ironischen, aber stets zugewandten Blick für ihre Sujets, wie man ihn in allen ihren Werken spüren kann.
Nach unserer Verabschiedung überlasse ich Anna wieder ihrer Arbeit und bahne mir den Weg durch die noch immer lärmenden Werkhallen der Gießerei. Als ich dann vor das Skulpturenforum trete, wird es plötzlich ganz still und ich kann nicht anders, als die über den strahlend blauen Himmel huschenden Wolken und das sich fein kräuselnde Wasser der Spree, das träge unter mir vorbeifließt, mit anderen Augen zu betrachten.
Die Homepage der Künstlerin: Anna Bogouchevskaia
Text: Viktor Gallandi
Zur Ausstellung: Moving Waters